Hier findest du den original Artikel in der Wiener Zeitung vom 30.01.2020:
Es ist von seinen vielen Baustellen wohl die größte in seinem Ministerium: Gesundheits- und Sozialminister Rudolf Anschober reiste am Mittwoch nicht nur mit den aktuellen Herausforderungen durch die Grippewelle in Österreich zur zweitägigen Regierungsklausur nach Krems an. Mittelfristig hat er die Bewältigung der Finanzierungsprobleme und Neuorganisation der Pflege am Hals. Denn der Grünen-Politiker hat die Pflegereform von der ständig überfordert wirkenden FPÖ-Sozialministerin Beate Hartinger-Klein geerbt, die ohne Platzen der türkis-blauen Koalition im Herbst 2019 einen Plan vorlegen hätte müssen.
Eine einfache Übung hat die amtierende türkis-grüne Regierung bei der Pflege mit einem symbolischen Besuch in einem Pflegeheim in Wien-Ottakring nach ihrem Amtsantritt absolviert. Dies, um zu demonstrieren, dass sie die Nöte hunderttausender Menschen, die selbst pflegebedürftig sind oder der Familien, die Angehörige betreuen, ernst nimmt. Eine Arbeitsgruppe von Bund, Ländern und Gemeinden wird eingerichtet, so viel steht fest.
Ausgerechnet Bundeskanzler Sebastian Kurz hat schon beim ersten Auftritt mit Vizekanzler Grünen-Chef Werner Kogler nach dem Abschluss der Koalitionsverhandlungen am Neujahrstag bei der Finanzierung für Aufsehen und Verwirrung zugleich gesorgt. Der ÖVP-Obmann ließ mit der Ankündigung aufhorchen, dass eine Pflegeversicherung kommen soll. Er nannte erneut ein Modell aus dem ÖVP-Wahlkampf, nach dem die Pflegeversicherung als eigene Säule der Sozialversicherung gestaltet wird. Zur Finanzierung der Pflege sollen Mittel der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (AUVA) umgeschichtet werden. Das Geld könne aus der AUVA aufgebracht werden, weil sich die Zahl der Arbeitsunfälle verringert habe. Gleichzeitig hat Kurz selbst klargestellt, der Großteil der Aufwendungen für die Pflege werde aus Steuermitteln aufgebracht – wie von seinem grünen Koalitionspartner, der SPÖ sowie Arbeiterkammer und Gewerkschaftsbund stets gefordert wird.
Grüne Absage an eine “klassische” Versicherung
Sozialminister Anschober hat bereits in ersten Interviews nach seinem Amtsantritt betont, dass es in Österreich sicher keine Pflegeversicherung im klassischen Sinne nach deutschem Vorbild geben werde. Dort werden eigene Beiträge zur Pflegefinanzierung eingehoben. Das würde der Linie der Kanzlerpartei ÖVP widersprechen, die höhere Beiträge oder Steuererhöhungen ablehnt. Der Sozialminister stellte damit auch eine missverständliche Formulierung im Regierungsabkommen klar, wo, wie es heißt, zwar auf Drängen der Volkspartei zweimal von einer Pflegeversicherung die Rede ist. Unmittelbar daneben heißt es aber schwarz auf weiß, Bund und Länder würden sich um eine Bündelung der verworrenen Finanzierungsströme im Pflegesektor bemühen .
Informationen der “Wiener Zeitung” aus gesicherten Quellen in der AUVA zeigen nun, dass das Vorhaben von Kurz, zumindest einen Teil der Pflegefinanzierung aus frei werdenden Mitteln der Unfallversicherung durch den Rückgang der Arbeitsunfälle aufzubringen, einen entscheidenden Haken hat. Freie Mittel in zweistelliger Millionenhöhe sind bei der AUVA weder derzeit noch im kommenden Jahr vorhanden. Diese sind aber notwendig, wenn man weiß, dass in Österreich derzeit für die Pflege – vom Pflegegeld über mobile Dienste und 24-Stunden-Betreuung daheim – rund fünf Milliarden Euro aufgewendet werden.
Heuer fehlen 39 Millionen Euro in der AUVA
Die AUVA hat schon jetzt mit einem chronischen Minus in der Bilanz zu kämpfen. Dieses wurde für heuer mit 39 Millionen Euro veranschlagt, im Vorjahr waren es 24 Millionen Euro. Die Budgetvorschau für 2021 sieht in der laufenden Gebarung ein Minus von 28 Millionen Euro vor, wie aus AUVA-Kreisen zu erfahren ist. Zwar ist ein Abgang in zweistelliger Millionenhöhe in dieser Größenordnung kein Beinbruch, weil auf Rücklagen zurückgegriffen werden kann und die Bilanzsumme der AUVA bei 1,4 bis 1,5 Milliarden Euro pro Jahr liegt.
Aber die Regierungspartei ÖVP ist mitverantwortlich für das Minus der AUVA. 2019 musste eine Senkung der von den Arbeitgebern zu zahlenden Beiträge von 1,3 auf 1,2 Prozent der Lohnsumme verkraftet werden. Das kostet die Unfallversicherungsanstalt nunmehr jährlich rund 110 Millionen Euro an Einnahmen. Bereits 2014 waren die Beiträge der Unternehmen von der SPÖ-ÖVP-Bundesregierung von 1,4 auf 1,3 Prozent der Lohnsumme gesenkt worden.
Dazu kommt zusätzlich eine Auswirkung der von ÖVP und FPÖ beschlossenen Reform der Sozialversicherung, die in der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt geblieben ist. Rund 550.000 Personen, die als Selbständige tätig sind, sind mit dem Jahreswechsel 2019/20 von der AUVA zu der nun fusionierten Sozialversicherungsanstalt der Gewerbetreibenden und Bauern, die jetzt kurz SVS für Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen heißt, verlagert worden. Damit fehlen der Unfallversicherung weitere 36 Millionen. Das schmälert mit den 110 Millionen Euro aus fehlenden Beitragseinnahmen das jährliche AUVA-Budget um knapp 150 Millionen Euro.
Aber auch der von Kurz angeführte Rückgang der Arbeitsunfälle und daraus frei werdende Mittel entpuppen sich bei genauerem Hinschauen zum Teil als Chimäre. Denn der Rückgang der Arbeitsunfälle hat zwar einer längerfristigen Betrachtung über mehrere Jahrzehnte tatsächlich stattgefunden. So wurden noch in den 1970er Jahren viel mehr Arbeitsunfälle verzeichnet. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass es damals wesentlich mehr Arbeiter gab, die außerdem größeren beruflichen Risiken ausgesetzt waren. Inzwischen ist die Zahl der Arbeitnehmer deutlich gestiegen, in Relation dazu die Zahl der Berufsunfälle aber nicht.
2018 gab es einen Anstieg auf 106.319 Arbeitsunfälle
Beim Blick auf die vergangenen Jahre zeigen die penibel geführten Statistiken der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt hingegen, dass die Arbeitsunfälle in absoluten Zahlen sogar gestiegen sind. Im Jahr 2015 wurde mit 101.468 Arbeitsunfällen ein Tiefpunkt erreicht. 2016 waren es knapp 103.000, im Jahr 2018 folgte ein Anstieg auf 106.319. Im Jahr 2015 kamen auf 1000 Versicherte 29,4 Arbeitsunfälle, 2018 lag der Wert mit 29 Arbeitsunfällen auf 1000 Versicherte nur geringfügig darunter.
Zu den finanziellen Dimensionen: Generell kann das jährliche AUVA-Budget in etwa gedrittelt werden. Ein Drittel wird ungefähr für Unfallrenten aufgewendet, ein weiteres Drittel für die Behandlung von Arbeitsunfällen und ein Drittel für Rehabilitation und Prävention. Das macht über den Daumen gepeilt für jedes Drittel rund 500 Millionen Euro. Selbst wenn die Zahl der Arbeitsunfälle bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode 2024 weiter gedrückt werden sollte, werden diese keinesfalls auf null zurückgeschraubt werden können. Unabhängig vom derzeit bestehenden Millionen-Loch in der AUVA-Gebarung bliebe, wie auch Experten vorrechnen, somit bestenfalls ein Teil der 500 Millionen Euro, die derzeit für Arbeitsunfälle aufgewendet werden, für die Pflege. Gleichzeitig steigen die Ausgaben für die Pflege stark.
Es müsste erst definiert werden, wann Versicherungsfall eintritt
Selbst die Einrichtung einer Pflegeversicherung als fünfte Säule der Sozialversicherung neben Kranken-, Pensions-, Unfallfall- und Arbeitslosenversicherung geht nicht so einfach über die Bühne. Damit, wie von der Volkspartei in Aussicht gestellt wurde, eine Absicherung und Ansprüche der Menschen, die von Pflegebedürftigkeit betroffen sind, gewährleistet werden, muss definiert werden, wann derartige Versicherungsfälle und damit Ansprüche fällig werden. Ähnlich wie beispielsweise bei der Krankenversicherung, wo festgelegt ist, wann im Falle einer Erkrankung Krankengeld zu zahlen ist.
Bleibt also noch jede Menge Arbeit für Sozialminister Anschober und letztlich die türkis-grüne Regierungsspitze. Denn diese muss den endgültigen Sanktus zu einer Pflegereform samt neuem Finanzierungsmodell geben.